Vortrag im Rahmen der Veranstaltungsreihe «100 Jahre Künstlerkolonie Uttwil am Bodensee», 22.2.2020, Regula Wyss

Die Autorin und Fotografin Thea Sternheim – Die Jahre in Uttwil

Sehr geehrte Damen und Herren,

Wir schreiben heute den 22.2.2020, eine bemerkenswert schöne Zahl,  und ich bedanke mich, dass ich heute meinen Vortrag über Thea Sternheim hier in Uttwil halten darf.

Vor hundert Jahren, im Februar 1920, zog die Familie Sternheim ins Dorf Uttwil: Thea Sternheim, in zweiter Ehe verheiratet mit dem Dramatiker Carl Sternheim, mit ihren beiden Kindern, Dorothea, 15-jährig, genannt Moiby oder Mopsa, und Klaus, damals 12-jährig. Der elsässische Schriftsteller René Schickele hatte ihnen sein möbliertes Haus, die «Margrit», zur Miete angeboten [Foto 1]1. Das Haus «Margrit» in Uttwil. Fotografie: Regula Wyss. Gleichzeitig riet der belgische Architekt und Designer Henry van de Velde, der mit seiner Familie in Uttwil wohnte, Sternheims ebenfalls, hierher zu ziehen.

René Schickele und Henry van de Velde haben einige von Ihnen anlässlich von früheren Vorträgen hier in der «Seeburg» bereits kennen gelernt, heute soll es um Thea Sternheim gehen. Es würde den Rahmen dieses Vortrags sprengen, ihnen ihr ganzes Leben und ihr gesamtes Werk vorzustellen. Ich gebe zunächst einen kurzen Überblick über ihr Leben, dann spreche ich über sie als Autorin, ein Schwerpunkt in meinem Vortrag wird die Zeit sein, als sie mit ihrer Familie hier in Uttwil wohnte. Während meines Vortrags werde ich auch Fotografien zeigen, die Thea Sternheim aufgenommen hat.

Sie wurde als Thea Bauer im Jahr 1883 in Neuss in der Nähe von Köln geboren, in grossbürgerlichem Milieu und katholisch erzogen; sie war intelligent, gebildet und musisch begabt. Mit knapp 18 Jahren heiratete sie gegen den Willen der Eltern den jüdischen Rechtsanwalt Arthur Loewenstein, die gemeinsame Tochter Agnes [Foto 2]2. Agnes Loewenstein, ca. 1908. Fotografie: Thea Sternheim wurde 1902 geboren. Die Ehe stand unter keinem guten Stern, die Ehepartner entfremdeten sich zunehmend voneinander. Loewenstein interessierte sich vor allem für seine Arbeit, sie wandte sich dem Kind und ihren Lektüren zu. Die Auflehnung gegen die Eltern reichte als Fundament für eine Ehe nicht aus.

In dieser Situation kommt es im Frühjahr 1903 zur ersten Begegnung mit dem Schriftsteller Carl Sternheim [Foto 3]3. Carl Sternheim, 1905. Fotografie: Bonner Hofphotograph, der damals 25 Jahre alt und ebenfalls verheiratet ist. Zu Beginn fühlt sich Thea Loewenstein von Sternheims exzentrischer, grosssprecherischer Art gleichzeitig abgestossen und angezogen. Die Lektüre seines Dramas «Judas Ischarioth» (1901) beeindruckt sie jedoch sehr, und sie beginnt eine Korrespondenz mit ihm. Im Jahr 1904 kommt es zu einigen heimlichen Treffen und Thea Loewenstein verliebt sich leidenschaftlich in Carl Sternheim. Sie ist fasziniert von ihm als dem schöpferischen Mann, sie bewundert seine Kreativität. Schon in ihren frühen Briefen erklärt sie sich bereit, Sternheim in seiner Arbeit gerne und tatkräftig zu unterstützen.

Am 10. Januar 1905 kommt ihre und Carl Sternheims Tochter Dorothea (Moiby, später Mopsa) noch mit dem Namen Loewenstein zur Welt [Foto 4]4. Thea Loewenstein mit Moiby, 1905. Fotografie: Düsseldorfer Fotograf. Thea Loewenstein lässt sich von ihrem Mann scheiden und zieht mit Carl Sternheim zusammen. Ein zweites gemeinsames Kind, Klaus [Foto 5]5. Thea Sternheim mit Klaus, ca. 1910. Fotograf unbekannt wird 1908 in der Nähe von München geboren. Nun beginnen für die junge Frau bewegte Zeiten, die auch mit vielen Ortswechseln verbunden sind. Sie hat von ihrem Vater, einem Fabrikanten, ein grosses Vermögen geerbt; Carl Sternheim heiratet im Juli 1907 eine reiche Frau. Mit ihm verkehrt sie in Schriftsteller- und Künstlerkreisen der Belle Époque und gehört zu den ersten Van-Gogh-Sammlern Deutschlands.

Eine erste Zäsur in ihrem behüteten Leben bedeutet der Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Die Familie Sternheim lebt seit 1912 in Belgien. Am 4. August 1914 muss sie nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Belgien überstürzt fliehen und zurück nach Deutschland ziehen. Erst im Mai 1916 können die Sternheims nach Belgien zurückkehren. Der Kriegsausbruch erschüttert Thea Sternheim zutiefst, schärft gleichzeitig aber auch ihr politisches Bewusstsein. Noch 16 Jahre später erinnert sie sich an den 4. August 1914 und bezeichnet den Kriegsausbruch im Tagebuch als «fürchterlichen Riss in unserem Leben» (TB 3.8.1930). Wegen des Krieges gehen Freundschaften zu Belgiern und  Belgierinnen in die Brüche oder sind schwer belastet. Fassungslos und entsetzt verfolgt Thea Sternheim das Kriegsgeschehen, sie klebt zunehmend Zeitungsartikel in ihr Tagebuch ein und hält ihre Reflexionen fest. Sie lehnt jede Art von Nationalismus und Militarismus dezidiert ab, nicht nur den deutschen, und beginnt sich mit Pazifismus und Sozialismus auseinanderzusetzen.

Die Lektüre von Tolstojs Werken, den sie schon als junge Frau verehrt hat, erhält im Krieg eine neue Brisanz. Sie schickt Tolstojs Pamphlet «Christentum und Vaterlandsliebe» (1894) an Schriftstellerinnen, Schriftsteller und Politiker wie Karl Liebknecht, Heinrich Mann, Annette Kolb und Franz Werfel. «Immer noch, immer noch glaub ich, es könne Berge versetzen. Glaub ich, meine Pflicht ist’s, es zu verbreiten, es allen zu geben, wo ich auch nur den Atom eines guten Willens weiss.» (TB 16.4.1915).

Tolstoj verficht die Meinung, der Kriegsdienst sei mit dem Christentum nicht vereinbar.

Nach intensivem Studium von Tolstojs Werken verfasst Thea Sternheim einen Artikel über den Autor und seinen Pazifismus, der im Urchristentum fundiert. Im Frühjahr 1915 sollte dieser Aufsatz in der Zeitschrift «Die Aktion», herausgegeben vom linksradikalen Publizisten Franz Pfemfert, veröffentlicht werden. Die Zensur erhebt jedoch Einspruch und der Text kann erst 1917 im «Aktionsbuch» [Abb. 6]6. Artikel von Thea Sternheim im «Aktionsbuch» (Berlin 1917) erscheinen.

Thea Sternheim lebte an verschiedenen Orten in Deutschland, Belgien, in Paris sowie in der Schweiz. Bereits 1932 emigrierte sie, damals in Berlin lebend, angewidert vom aufkommenden Nationalsozialismus nach Paris. Dort hatte sie vielfältige Kontakte zu anderen Emigrantinnen und Emigranten. Durch ihre Freundschaft mit André Gide [Foto 7]7. André Gide. Fotografie: Thea Sternheim  lernte sie auch französische Intellektuelle kennen. Im Juni 1940 wurde sie wie alle in Frankreich lebenden Deutschen verhaftet und in der Folge im Frauenlager Gurs in den Pyrenäen [Abb. 8]8. Thea Sternheim in Gurs, gezeichnet von Lou Albert-Lasard, 1940  interniert. Dank dem Einsatz von französischen Freunden wurde sie bereits nach zwei Monaten entlassen. In den folgenden Jahren lebte sie wiederum in Paris, insgesamt 30 Jahre lang und allmählich verarmend. Im Alter von 80 Jahren zog sie 1963 um nach Basel, um in der Nähe ihrer ältesten Tochter Agnes Loewenstein zu sein. Diese war Sängerin und Dozentin und trug den Künstlerinnennamen Ines Leuwen (-Beck). In Basel wohnte Thea Sternheim bis zu ihrem Tod am 5. Juli 1971.

Nach diesem Lebensabriss komme ich auf Thea Sternheim als Autorin [Foto 9]9. Thea Sternheim, Uttwil 1926. Fotograf unbekannt  zu sprechen: Sie war Tagebuch- und Briefschreiberin, Übersetzerin, Verfasserin von Aufsätzen in Zeitschriften, Romanautorin und nicht zu vergessen: jahrelang Mitarbeiterin am literarischen Werk Carl Sternheims.

Ihre schriftstellerischen Tätigkeiten sind also sehr breit und vielfältig, und sie erstrecken sich über Jahrzehnte. Sowohl die Tagebücher (1903–1971) [Abb. 10]10. Tagebücher 1903–1971 Thea Sternheims als auch ihr Roman «Sackgassen» (1952) können im wörtlichen Sinne als Lebenswerke der Autorin bezeichnet werden. Die Arbeit an beiden Werken beschäftigte sie während Jahrzehnten, und sie verstand die Niederschrift als Lebensaufgabe. In meinem Vortrag werde ich immer wieder auf die Tagebücher verweisen und daraus zitieren.

Als Mitherausgeberin der 5-bändigen Tagebuchedition habe ich mich viele Jahre lang mit diesem Werk intensiv beschäftigt, und es fasziniert mich nach wie vor. Wenn ich mich nach einiger Zeit wieder in die Tagebücher vertiefe, sehe ich die Aufzeichnungen mit anderen Augen, interessieren mich andere Aspekte. Beeindruckt bin ich immer wieder vom Weitblick der Autorin, von ihrer hinterfragenden und empathischen Haltung und ihrer Formulierungsgabe.

Allein wegen seines Umfangs und wegen der langen Zeit, die es abdeckt – rund 68 Jahre – gehört Thea Sternheims Tagebuch zu den bedeutendsten diaristischen Werken des 20. Jahrhunderts.

Aussergewöhnlich ist schon die Gestalt und die Form des handgeschriebenen Tagebuchs: Die Autorin benutzte während rund 68 Jahren immer dasselbe querformatige und gelochte Papier [Abb. 11]11. Tagebuch Thea Sternheim (Faksimile) . Am Ende eines Lebensjahres, also jeweils am 24. November, wurden die beschriebenen Seiten mit einer Kordel und zwei Kartondeckeln zu Bänden gebunden. In den ersten Jahren führt sie ihr Tagebuch noch nicht regelmässig, erst ab etwa 1910 schreibt die Autorin praktisch täglich. Das Tagebuch enthält nicht nur einen fortlaufenden eigenen Text; die Autorin hat auch zahlreiche Briefe, die sie selbst schreibt oder empfängt, wörtlich abgeschrieben. Diese Briefe bilden somit einen integralen Bestandteil ihres Tagebuchs. In einige Bände hat Thea Sternheim selbst aufgenommene Fotos – Porträts von Familienangehörigen und Menschen, die ihr nahestanden – sowie Zeitungsartikel meist politischen Inhalts eingeklebt. Sie hat sich das Fotografieren selbst beigebracht, hin und wieder holt sie sich Rat bei Fachleuten; immer wieder erwähnt sie im Tagebuch, wie viel Freude ihr diese Tätigkeit bereitet.

Als Tagebuchschreiberin ist sie äusserst diszipliniert: Bemerkenswert ist die akkurate, fast kalligraphische Schrift, die – im Vergleich zu Tagebüchern von anderen Schriftstellern – in der Regel gut lesbar ist. Sie schreibt ausgefeilte, oft komplexe Sätze und hält den vorgedruckten Rand des Papiers genau ein.

Die handgeschriebenen Originale der Tagebücher befinden sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach, es sind 63 Bände, insgesamt über 30‘000 kleinformatige Seiten. Für die 5-bändige Edition, die mein Kollege Thomas Ehrsam und ich im Jahr 2002 (Neuauflage 2011) im Wallstein Verlag herausgaben, haben wir ungefähr einen Drittel des Textes ausgewählt.

Wer Tagebuch führe, schreibe niemals nur über sich selbst, er schreibe auch über seine Zeit, stellt Rainer Wieland im Vorwort zu seinem «Buch der Tagebücher» (München/Zürich 2010) fest. Dies gilt in hohem Masse für die Tagebücher Thea Sternheims: Die Autorin schreibt ebenso über Alltägliches, über das Familienleben, über ihre Lektüren und Begegnungen mit Menschen wie über die politischen Ereignisse und Katastrophen der ersten zwei Drittel des 20. Jahrhunderts. In den frühen Jahren überwiegen private Aufzeichnungen. Sie ist eine hingebungsvolle Mutter, sie verbringt viel Zeit mit ihren Kindern. Sie schreibt über ihr Zusammenleben mit Carl Sternheim, über ihre Mitarbeit an seinem literarischen Werk sowie über Auseinandersetzungen mit ihm, in denen Differenzen unüberwindbar sind – etwa in Fragen der Religion oder der ehelichen Treue. Wie bereits erwähnt, stellt der Ausbruch des ersten Weltkriegs einen Bruch in Thea Sternheims Leben dar. Sie liest Zeitungen und äussert sich zunehmend zu politischen und gesellschaftspolitischen Themen. Religiöse Betrachtungen und eine vertiefte Auseinandersetzung mit religiösen Fragen haben im gesamten Tagebuch einen hohen Stellenwert.

Ich unterbreche hier meine Ausführungen zum Tagebuch, es gäbe noch vieles darüber zu sagen, vielleicht komme ich später noch einmal darauf zurück.

Im Februar 1920 zog die Familie Sternheim, wie bereits erwähnt, nach Uttwil. Wie kam es dazu? – Anfang April 1919 berichtete Thea Sternheim in ihrem Tagebuch von einer Begegnung mit René Schickele, den die Sternheims seit 1914 kennen und schätzen: «Mit Schickele, der ausnehmend herzlich ist. ‚Ziehen Sie an den Bodensee, zu uns nach Uttwil! Da hat van de Velde sein Haus, ich, da gründen wir gemeinsam einen Verlag und kümmern uns um keinen Teufel!‘ […] Und warum nicht? War der Bodensee mir nicht immer teuer durch Gestaltung und Lage, jetzt teurer durch Erinnerung? Heinrich Suso in Konstanz.» (TB 2.4.1919).

Erwähnt wird hier den Dominikanermönch, Prediger und Mystiker Heinrich Suso oder Heinrich Seuse (1295-1366); er wirkte in Konstanz. Mit der Lektüre der Schriften von Mystikerinnen und Mystikern setzte sich Thea Sternheim jahrzehntelang auseinander, sie bedeuteten ihr Trost und Orientierung in schweren Zeiten. Im Gedenken an Heinrich Seuse begreift sie die Bodenseeregion als gleichsam mystische Landschaft: In der Ferne können der Himmel – das, was über uns ist – und das Wasser – das, was hienieden ist, das Irdische – sich berühren oder ineinander übergehen; die Wasseroberfläche erscheint als ein Spiegel, der das zurückwirft, was von oben auf ihn fällt als Licht, Wolken, Himmelskörper… Über eine Fahrt dem Bodensee entlang notierte Thea Sternheim in ihr Tagebuch: «Wieder rührt mich unserer Landschaft klassische Schönheit. Die grosse Horizontale des Sees gibt die Vorstellung des Hingelagerten: er ist eine Schale, die Sonne, Mond und Sterne auffängt, den Vorgang durch Widerspiegelung verdoppelt.» (TB 15.11.1927).

Im Jahr 1919, vor ihrem Umzug nach Uttwil, lebte die Familie Sternheim bereits in der Schweiz, zunächst in Thun, dann in St. Moritz. In den Alpen fühlte sich Thea Sternheim überhaupt nicht heimisch, die Berghänge und Felsen rückten ihr zu nahe, sie fühlte sich beengt davon, deshalb war sie froh, St. Moritz verlassen zu können. So notierte sie am 10. Februar 1920: «Ich reise früh, ohne Bedauern. Ohne Rückblick. Um erst gegen Abend in Uttwil anzukommen. Bei Rorschach schon war der Anblick des unermesslichen Wassers mir tröstlich. Das steigerte sich, je mehr ich mich Uttwil näherte. Mich überkam eine große Stille.» (TB 10.2.1920).

Die Familie Sternheim lebte also vom 10. Februar 1920 bis 19. Juni 1922 im Haus «Margrit»; sie pflegte einen engen Kontakt mit der Familie van de Velde, dem Architekten Henry und seiner Frau Maria, Pianistin, sowie deren fünf Kindern, die sich mit den Sternheimkindern anfreundeten. Wie Sie vielleicht von einem früheren Vortrag in dieser Veranstaltungsreihe wissen, war der belgische Architekt und Designer Henry van de Velde mit seiner Familie 1918 nach Uttwil gezogen; er wollte hier eine Schule gründen. Aus finanziellen Gründen konnte er seinen Plan nicht verwirklichen und musste Ende 1920 auch sein Haus, das «Schlössli», verkaufen. Van de Veldes zogen in der Folge nach Holland; in den folgenden Jahren hatten sie weiterhin gelegentlich Kontakt mit Thea und Carl Sternheim.

Auch mit den Einwohnerinnen und Einwohnern Uttwils verstand sich Thea Sternheim gut. So notierte sie einmal in ihr Tagebuch: «Nie war mir eine Bevölkerung sympathischer als die hiesige. Mein unüberwindlicher Gêne bröckelt ab. Ich grüsse, plaudere, lache. Jeder ist dienstbereit.» (TB 27.3.1925). [Foto 12]12. Conrad Eggmann, Fischer in Uttwil. Fotografie: Thea Sternheim .

Trotzdem waren diese Jahre in Uttwil nicht nur leicht. Ehelicher Zwist und familiäre Spannungen belasteten das Familienleben, Mopsa lehnte sich gegen ihren Vater auf, der sie kontrollierte und eifersüchtig bewachte. Sternheim war in ärztlicher Behandlung wegen übermässiger Nervosität und körperlichen Symptomen. «Meiner Seele abgründige Melancholie quält bis zum Aufschrei. Wie das enden mein Gott! Wie das enden? […] Nur von Karl fort! Ich atme nicht mehr in seinem Schatten.» (TB 23.4.1920). Durch seine zunehmende Egomanie zermürbt, immer wieder verletzt wegen seiner Liebschaften, unternahm Thea Sternheim im Oktober 1920 einen Suizidversuch mit Schlaftabletten.

Nach diesem Tiefpunkt, im November 1920, reiste Thea Sternheim [Foto 13]13. Thea Sternheim, ca. 1923. Fotograf unbekannt  nach Montreux. Sie besuchte den russischen Schriftsteller Nikolaj Aleksandrowitsch Rubakin, einen Vertrauten Tolstojs. Es handelt sich um eine wichtige und folgenreiche Begegnung, gegenseitige Sympathie ist von Anfang an vorhanden. Der 56-Jährige beeindruckt Thea Sternheim tief durch seine Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Sie ist nämlich gekommen, um ihn um Unterstützung zu bitten: Wie bereits erwähnt hatte die Familie Sternheim während des 1. Weltkriegs in Belgien gelebt. Nach der Niederlage Deutschlands im November 1918 war es wegen des erbitterten Hasses der Belgier auf Deutsche unmöglich geworden, weiterhin in Belgien bleiben. Die belgischen Behörden beschlagnahmten einen Teil des Vermögens, unter anderem die stattliche Bibliothek. Thea Sternheim schreibt: «Tatsächlich ertragen wir das Fehlen unserer Bibliothek schwerer, als wir anfangs annahmen. Die Bücher sind eben Karls Handwerkszeug; es geht ihm jetzt wie einem Tischler, dem man die Hobelbank zerschlug. Er fängt an hilflos zu werden. An einen Neukauf […] ist nicht zu denken: so erleidet man resigniert die Maßnahmen eines sittenlosen Regimes.» (TB 13.6.1920).

Die Sternheims mussten befürchten, dass ihr beschlagnahmtes Eigentum in Belgien verkauft würde. Dank gutem und geduldigem Verhandlungsgeschick gelang es Rubakin aber, innerhalb von drei Monaten die Freigabe der Bibliothek zu erwirken. Kurz darauf besuchten Sternheims das Ehepaar Rubakin in Montreux, sie sind dem Russen sehr dankbar. Thea Sternheim notiert: «Mit ihnen zum Tee in ihre neue Wohnung: Das ist äusserstes Bescheiden, fast Armut. Frau Roubakine abgemagert, abgründig melancholisch. […] Ich aber liebe diese Menschen, ihn vor allem, als das gütigste Wesen, das mir je begegnet. Welch stündliche Bereitschaft zur Menschlichkeit immer wieder.» (TB 10.3.1921).

Im Dezember 1920 entdeckt Thea Sternheim das Werk «Mein Stundenbuch» («Mon Livre d’Heures», 1919 erschienen) von Frans Masereel, dem belgischen Holzschneider und Maler [Foto 14]14. Frans Masereel. Fotografie: Thea Sternheim . Masereel war 1915 mit Pauline Imhoff, seiner späteren Ehefrau, in die Schweiz gekommen. Seit 1916 lebte er in Genf und arbeitete als Graphiker für pazifistische Zeitungen. Er trat dem Internationalen Roten Kreuz in Genf bei und schloss sich dem Kreis der Pazifisten um Henri Guilbeaux und Romain Rolland an.

Das «Stundenbuch» [Abb. 15]15. Frans Masereel, Das Stundenbuch (München 1919)  ist ein kleinformatiges Werk, es enthält 165 Holzschnitte, Bilder ohne Worte, es handelt von einem jungen Mann, unbefangen, ohne  Vorurteil, ohne viel Besitz, ohne bürgerliche Zwangsvorstellungen. Er ist ein Romantiker, ein unbeschriebenes Blatt. Beim Betrachten von Frans Masereels Werk zeigt sich Thea Sternheim tief berührt von der  «naiven Menschlichkeit» der Hauptfigur, wie sie sich ausdrückt, eine Menschlichkeit ohne jeglichen Ich-Wahn, ohne Sadismus, eine Menschlichkeit, die sich dem Mitleid, aber auch der Mitfreude öffnet. Im Herbst 1921 schreibt sie einen Artikel über Frans Masereel für die Zeitschrift «Der Querschnitt» des Galeristen und Kunsthändlers Alfred Flechtheim, in dem sie das Gesamtwerk des Künstlers würdigt. Ich zitiere eine Passage aus diesem Artikel: Die Hauptfigur im «Stundenbuch», der junge Mann streift durch die Stadt: «Da beginnt das Leben auf ihn zu wirken. Haus, Straße, Kreatur und Element bewegen sich auf ihn zu und brechen seine Unbefangenheit, flechten ihn in Ereignisse und entfesseln sein Urteil. Anfangs noch nach Recht, Vernunft und Barmherzigkeit rufend, wird sein Kampf mit öffentlicher Meinung schließlich helle Rebellion gegen ein erbarmungsloses System. Und er stirbt, nachdem er aus hinreißenden Blättern immer begeisterter das feierliche Bekenntnis zur Internationale der Menschheit abgegeben, unter begreifenden Sternen und Sonnen schließlich an der Melancholie seines empfindsamen Herzens.»

Thea Sternheim schreibt dem Künstler [Foto 16]16. Frans Masereel. Fotografie: Thea Sternheim  einen Brief, den dieser Mitte Januar 1921 beantwortet. In ihr Tagebuch notiert sie am 16. Januar 1921: «Frans Masereels Brief versetzt mich in Glück. Es ist der erste Schritt zu einer Annäherung, die ich dringend wünsche, seitdem ich sein schönes Stundenbuch als das künstlerische und menschliche Ereignis dieser letzten Jahre empfand.»

Dies ist der Auftakt einer Korrespondenz mit dem Künstler; und in diesem Frühjahr 1921 beginnt eine intensive, komplizierte und wechselhafte Beziehung zu Frans Masereel, die über Jahre dauern wird.

Im März 1921 sehen Thea und Carl Sternheim erstmals eine Ausstellung mit Werken des flämischen Künstlers im Museum Winterthur. Es war eine Gruppenausstellung mit dem Titel «Gemälde- und Plastikausstellung», veranstaltet vom Kunstverein Winterthur. Dabei waren von Frans Masereel 35 Exponate zu sehen. «Die ersten Gemälde, die ich von ihm sehe. Neue Folgen Holzschnitte, Zeichnungen, immer intensivere Rebellion, umfangendere Brüderlichkeit. Ach, wie bejahe ich dieses Mannes Feststellung unbedingt! Im Gegensatz zu Karl gefallen mir drei der Gemälde ausgezeichnet. […] Mein Herz ist außerordentlich bewegt durch diesen Mann. « (TB 9.3.1921).

Erstmals trifft Thea zusammen mit Carl Sternheim den Künstler Frans Masereel am 3. März 1921 in Lausanne, wie sie in ihrem Tagebuch berichtet.

In den folgenden Wochen und Monaten erhält Thea Sternheim sämtliche Bücher des Künstlers, oft mit Widmung: «Soleil» (1919); «Histoire sans paroles» (1920); «Idée» (1920); «Souvenirs de mon Pays» (1921); «Un Fait divers» (1921). Diese Geschenke nimmt Thea Sternheim mit grosser Dankbarkeit entgegen, vom Inhalt der Bücher ist sie zutiefst ergriffen, sie sieht in Frans Masereel einen Seelenverwandten, der auszudrücken vermag, was sie selber bewegt. In etlichen Tagebuch-Einträgen kommt dies zum Ausdruck.  «Ich bin ganz und gar gepackt; stehe vollauf unter dem Bann seiner Gedanken.» (TB 30.3.1921); «Unsere Empfindungen kreuzen sich wunderbar. Erlösend ist es, dass endlich Masereel es auf seine einzige Art ausspricht.» (TB 7.6.1921).

Ein zeitlicher Rückblick: Als Thea Loewenstein in den Jahren 1903/1904 als junge Frau Carl Sternheim kennenlernte, war sie fasziniert von ihm als dem schöpferischen Mann. Teilhabe am Schöpferischen bedeutet für Thea Sternheim die höchste Seinsweise des Menschen; sie verehrt einzelne Schriftsteller, vor allem französische und  russische aus dem 19. Jahrhundert, nennt sie manchmal ihre «Heiligen» oder ihre «Nothelfer». Als sie im Jahre 1921 Frans Masereel und dessen Werk begegnete, fühlte sie sich wiederum stark angezogen von einem schöpferischen Mann, zusätzlich von dessen  menschlicher Integrität. «Vermutlich wird die Rolle, die ein anderer in unserem Leben spielt, von den eigenen Sehnsüchten bedingt. Jedenfalls zog mich die schöpferische Begabung im Anderen am elementarsten an», notierte sie als alte Frau, zurückblickend auf ihr Leben, am 10. November 1967 in ihr Tagebuch. Eine schöpferische Begabung bedeutet für sie jedoch nicht nur ein Privileg, sondern auch eine Verpflichtung. Ihr Wunsch, selbst ein Kunstwerk zu schaffen, und damit ihr Bedürfnis, anderen mitzuteilen, was für sie von Wichtigkeit ist, begleiten sie während ihres ganzen Lebens.

Im April 1922 besucht Frans Masereel zusammen mit seiner Frau Pauline und seiner Tochter Paule die Sternheims erstmals in Uttwil – bei einem weiteren Treffen im Mai ist diese Fotografie, auf der Frans Masereel mit Carl Sternheim abgebildet ist, entstanden. [Foto 17]17. Frans Masereel und Carl Sternheim, Uttwil 1922. Fotografie: Thea Sternheim .

Die Begegnung mit Frans Masereel und dessen Werk war für Thea Sternheim sicher eines der wesentlichen und prägendsten Ereignisse dieser knapp zweieinhalb Jahre ihres ersten Uttwiler Wohnaufenthalts. Es gab ja noch einen zweiten, davon später.

Wegen der fortschreitenden Entwertung der deutschen Währung wird für die Sternheims das Leben in der Schweiz zu kostspielig, und sie müssen sich nach einem Wohnsitz in Deutschland umsehen. Ab Juli 1922 bis Oktober 1924 werden sie im «Waldhof», in der Nähe von Dresden, leben. Der Wegzug aus Uttwil fällt Thea Sternheim schwer. Nicht nur wird sie die Bodenseeregion vermissen: «Unter blauem Himmel sind die Ufer des Sees wahrhaft paradiesische Landschaft» (TB 4.6.1923), schreibt sie, fehlen wird ihr auch die einheimische Bevölkerung: «Da ist Wohlwollen, Interesse, Gastlichkeit. Da ist Laune, Lachen und als Echo aus mir Zugehörigkeit.» (TB 16.6.1921).

Auf die Jahre in Dresden gehe ich hier nur kurz ein: Sie sind für die ganze Familie belastend wegen Carl Sternheims schlechter gesundheitlicher Verfassung, seiner überreizten Nervosität. Trotz alledem unterstützt seine Frau ihn weiterhin als Mitarbeiterin in seinem literarischen Schaffen, indem sie Quellen studiert, gemeinsam mit Sternheim Ideen entwickelt, Änderungsvorschläge macht, seine Manuskripte auf der Schreibmaschine abtippt…

Im «Waldhof» pflegen Sternheims engen Kontakt zum Maler Conrad Felixmüller [Foto 18]18. Franz Pfemfert und Conrad Felixmüller. Fotografie: Thea Sternheim  und dessen Familie sowie zum kommunistischen Pädagogen Otto Rühle [Foto 19]19. Otto Rühle und Klaus Sternheim. Fotografie: Thea Sternheim  und dessen Frau, der Schriftstellerin und Psychologin Alice Gerstel-Rühle. Der Publizist und Herausgeber der «Aktion», Franz Pfemfert, ist häufig zu Gast, von Thea Sternheim erlernt er Techniken des Fotografierens, und er wird ihr ein teurer Freund [Foto 20].20. Franz Pfemfert und Thea Sternheim, Waldhof 1923. Fotografie: Dorothea (Mopsa) Sternheim 

Die Kinder der Familie Sternheim, Mopsa und Klaus, sprechen mit ihrer Mutter über ihre berufliche Zukunft und versuchen einen ersten Schritt in die Selbstständigkeit: Mopsa, künstlerisch und zeichnerisch ausserordentlich begabt, besucht die Dresdener Kunstakademie, um sich zur Bühnenausstatterin ausbilden zu lassen. Auch Klaus verlässt das Elternhaus, um in England seine Sprachkenntnisse zu vertiefen. Beide Sternheim-Kinder, sowohl Mopsa als auch Klaus, nimmt die Mutter als unausgeglichen und labil wahr. Agnes [Foto 21]21. Agnes Loewenstein und Thea Sternheim, Uttwil 1927. Fotograf unbekannt , Thea Sternheims Tochter aus erster Ehe, steht ihr in den zwanziger Jahren am nächsten von allen Familienangehörigen, als einzige macht sie ihr den «Eindruck eines beruhigten Menschen» (TB 1.2.1924). «Meine drei Kinder – da ist Klaus, um den ich am ängstlichsten besorgt bin weil ich ihn am schwächsten fühle – da ist Moiby, die nicht mehr zu uns zurückkommt, da ist Agnes, die die Süssigkeit des Gebetes ahnt und nach Gott sehnsüchtig ist – vielleicht von allen dreien jetzt das Kind, das ich am innigsten liebe […]» (TB 7.12.1924).

Thea und Carl Sternheim wollen nicht in Dresden bleiben, sie planen ihre Rückkehr in die Schweiz. Zu finanzieren ist das nur, weil Thea Sternheim seit Mitte der Zwanzigerjahre mehrere Bilder aus ihrer Sammlung verkauft – Bilder, die heute zum Bestand grosser Museen in Europa und den USA gehören. Sie verkauft mehrere Gemälde Vincent van Goghs, den sie auch zu ihren «Heiligen» zählt. Im März 1923 besucht sie Uttwil, wo der Bau des neuen Hauses voranschreitet, das sie selbst entworfen hat [Foto 22]22. Das Uttwiler Haus. Fotografie: Thea Sternheim . «Da ist Uttwil, der See! Die Leute begrüßen uns wieder mit jener wohltuenden Herzlichkeit, die eine der Ursachen bleiben wird, warum ich mich an diesem Ort so zu Haus fühle.» (TB 29.3.1923).

Zurück in Dresden berichtet Thea Sternheim in den folgenden Wochen immer wieder von den massiven Preissteigerungen, Läden werden geschlossen, Menschenansammlungen sind verboten. Die Zahl der Arbeitslosen steigt, es kommt zu Aufständen und Hungerrevolten in verschiedenen deutschen Städten, die von der Polizei und vom Militär niedergeschlagen werden.

«Abgesehen davon, dass Karl hier nie zur Arbeit kommen wird, spitzt sich die politische Situation unbedingt zum Faszismus zu», schreibt Thea Sternheim am 6.4.1924 in ihr Tagebuch. Im Spätsommer 1924 verkaufen Sternheims den «Waldhof» und übersiedeln zurück nach Uttwil.

Familiäre Themen und Sorgen prägen die knapp drei Jahre des zweiten Aufenthalts in Uttwil (Oktober 1924 bis November 1927). Mopsa kommt aus Köln, besucht das Elternhaus. Thea Sternheim nimmt sie als «ramponiert» wahr. «Trotz meiner grossen Sympathie für sie, bleibt sie mir fremd. Ich schäme mich fast aufrichtig mit ihr zu sprechen.» (TB 15.7.1926). Auch Klaus besucht seine Eltern in Uttwil und erzählt von seinen Erlebnissen in England. «Für mich bleibt er ewig der kleine Junge, der Letztgeborene, das bezaubernde Wesen, das er mit zwei Jahren war. Der, den ich ohne Hoffnung auf Karl, aber im vollen Glauben an meine Liebe getragen habe.» (TB 19.3.1925). Im Januar 1926 reisen Thea und Carl Sternheim nach Berlin, wo sich ihre Kinder aufhalten. Klaus [Foto 23]23. Klaus Sternheim in Berlin. Fotografie: Thea Sternheim  versichert in Gesprächen mit seiner Mutter immer wieder, er wolle möglichst bald beruflich selbständig werden. Weil seine Eltern vielfältige Beziehungen zu Verlagen und Galerien haben, findet er diverse Arbeitsstellen. Er scheint aber weder Ausdauer noch Ambitionen zu haben und kündigt die Stellen jeweils nach kurzer Zeit. Schliesslich hofft er auf eine Filmkarriere, die er jedoch nicht realisieren kann. Zu Mopsa [Foto 24]24. Mopsa Sternheim, Uttwil 1926. Fotografie: Thea Sternheim  findet die Mutter in dieser Zeit nur schwerlich Zugang, sie fühlt eine «furchtbare Widerstandslosigkeit» bei ihrer Tochter (TB 6.9.1926).  «Die Stadt [Berlin] zermürbt die Kinder», steht in einem Tagebucheintrag, «Wie sollen sie ohne Religion Widerstand leisten? Was denken, was tun, wofür leben sie? Ich weiss es nicht mehr.» (TB 13.10.1926). Beide Sternheimkinder, sowohl Mopsa als auch Klaus, werden drogensüchtig im Laufe der späten 20er-Jahre, und sie werden von den Drogen nie wieder loskommen. Beide sterben vor ihrer Mutter: Klaus 1946 infolge des Drogenkonsums, Mopsa erliegt 1954 einer Krebserkrankung.

Im Frühjahr 1926 reist das Ehepaar nach Berlin, um Gottfried Benn, den Schriftsteller und Arzt, einen sehr nahen Freund und Vertrauten aufzusuchen. Thea Sternheim schreibt: «[…] In die Bellealliancestraße. Benn, im weißen Kittel, um ihn das Dekor des Arztes für Geschlechtskrankheiten.» (TB 3.3.1926). Benn untersucht Carl Sternheim, der sehr verängstigt wirkt, «wird die Frage von Sein oder Nichtsein, von Gesundheit oder Krankheit angeschnitten.» (TB ebd.).

Das Zusammenleben mit Carl Sternheim [Abb. 25]25. Carl Sternheim. Holzschnitt von Conrad Felixmüller (1922)  wird für Thea Sternheim auf Grund von seiner geistigen Zerrüttung unerträglich. Immer unabweisbarer reift in ihr die Gewissheit, dass sie sich von Carl trennen muss. Im November 1927 notiert sie: «Dass ich meinen Weg fortan ohne Karl zu gehen habe, ist klar. Alle meine Nothelfer sind bei mir.» (TB 10.11.1927). Nach einem beleidigenden Vorfall entschliesst sie sich an ihrem 44. Geburtstag, am 25.11.1927, sich von Sternheim scheiden zu lassen, und teilt ihm dies in Anwesenheit der Kinder mit. Bereits im Dezember findet das Gerichtsverfahren statt; Thea Sternheim fühlt sich in erster Linie erleichtert, dass die Zeit der «grässlichen Anpassung» (TB 19.12.1927) an Carl vorbei ist. Sie verlässt Uttwil und zieht nach Berlin, wo auch ihre Kinder Mopsa und Klaus leben.

Auf ein zweites Thema, etwas erfreulicher als das familiäre, möchte ich im Folgenden noch kurz eingehen: In den Jahren 1925 bis 1927 (also in der Zeit des zweiten Wohnaufenthaltes in Uttwil) übersetzt Thea Sternheim verschiedene Werke von französischen Autoren wie Henri Ghéon (1875-1944), André Maurois (1885-1967) und André Gide. Sie verhandelt mit Verlegern wegen der Übersetzungen, empfiehlt Theaterstücke deutschen Regisseuren zur Aufführung. Vor allem Gide (1869-1951) [Foto 26]26. André Gide. Fotografie: Thea Sternheim  verehrt sie wie keinen anderen zeitgenössischen französischen Schriftsteller. Im Januar 1927 lernt sie ihn in Paris persönlich kennen.

Ihr erstes Treffen mit André Gide hinterlässt zunächst einen ambivalenten Eindruck; Thea Sternheim nimmt ihn als etwas eitlen, stark posierenden Mann wahr, dabei wirke er reichlich verbraucht, mehrmals müsse er sein Outsidertum erwähnen, kokettiere damit. Jedoch sei er in der Unterhaltung liebenswürdig und aufmerksam. Es folgen zahlreiche weitere Begegnungen und ein ausgedehnter Briefwechsel sowie viele persönliche Gespräche. Die gemeinsamen literarischen Interessen und der geistige Austausch haben mehr Gewicht als alles Trennende. Die Freundschaft zu André Gide wird bis zu dessen Tod 1951 sehr wichtig bleiben.

Ich möchte abschliessend noch ein paar Worte zur Persönlichkeit Thea Sternheims [Foto 27]27. Thea Sternheim. Fotografie: Franz Pfemfert  sagen, wie sie mir aus ihrem Tagebuch und ihren weiteren Schriften entgegengetreten ist. Aus zeitlichen Gründen kann ich nur ein paar wenige Aspekte herausgreifen.

Bereits aus frühen Einträgen geht klar hervor, dass das Führen eines Tagebuchs für Thea Sternheim schlicht notwendig ist. Es bekümmert sie, wenn familiäre Verpflichtungen oder äussere Umstände sie daran hindern. So notiert sie als junge Frau am 18. Juli 1913: «Ich komme nicht mehr dazu mein Tagebuch zu schreiben. Treppauf, treppab. Der Unterricht. Besorgungen. Die Zeit rast hin. Abends im Bett nur ein paar Stunden für mich.» Und mehr als 18 Jahre später schreibt sie nach einem Gespräch mit Julien Green, den sie als Schriftsteller und Diaristen sehr schätzt: «Julien ist wie ich der Meinung, dass ein Leben ohne Tagebuch gar kein wahrhaftes Leben wäre. Wir kommen zum Schluss, dass die Führung eines Tagebuchs das Glück tiefer, jedes Leid erträglicher macht.» (TB 15.12.1936).

Thea Sternheims Tagebuch ist das Zeugnis einer aussergewöhnlichen, hellwachen Frau, in ihm spiegelt sich gleicher­­massen das innere wie das äussere Leben. Mit ihren Fotografien, die sie einklebt, porträtiert sie Menschen, zu denen sie in einer Beziehung steht. Und auch im Tagebuch porträtiert sie beschreibend Personen, oft in knappen träfen Sätzen. Sie beschreibt nicht nur Äusseres, sondern auch die Ausstrahlung der Menschen. Manchmal tut sie das über Jahrzehnte hinweg und vermittelt damit Einblicke in Biographien, zeigt die Entwicklung von Persönlichkeiten auf.

Freundschaft ist ein zentrales Thema in Thea Sternheims Leben und ebenso in ihrem Tagebuch. Der Freundschaft misst sie einen hohen Wert zu: Sie bedeutet Zugehörigkeit, Vertrauen, geistige Gemeinschaft, Anteilnahme am anderen ohne Besitzanspruch. Viele ihrer Freundschaften überdauern Jahrzehnte, überdauern auch Krisen und Meinungsdifferenzen.

Zudem zeugen Thea Sternheims Aufzeichnungen von einer Frau, die sich von Jugend an der Kunst und Literatur verschrieben hat; die Auseinandersetzung mit Kunst und Literatur ist für sie zentral für die Menschenbildung, für die Entwicklung der Persönlichkeit. Das Le­sen, Reflektieren und Schreiben ist für Thea Sternheim ein Lebensinhalt, das versucht sie auch ihren Kindern zu vermitteln.

Als Beobachterin hält Thea Sternheim z.B. politische und gesellschaftspolitische Vorgänge in ihrem Tagebuch fest, Krisen, Kriege, Vertreibungen, Gewalttaten… Mit diesen Themen wird sie gezwungenermassen konfrontiert in den ersten zwei Dritteln des 20. Jahrhunderts. Aufgrund ihrer pazifistischen und mitfühlenden Haltung erleidet sie die menschlichen Tragödien, von denen sie erfährt, mit scharfem Sinn. Sie sind für sie Anlass, sich mit grundlegenden Werten der westlichen Gesellschaften, wie Nächstenliebe, Gerechtigkeit, Schutz der Schwachen und Verfolgten auseinanderzusetzen und sich ihrer eigenen Werte zu versichern.

Als Tochter aus grossbürgerlichem Haus hat sie schon als Mädchen etwas Aufmüpfiges. Mit der Formel «Anarchie und Frommsein» bringt sie als alte Frau ihre Kindheit und Jugend in Köln auf den Punkt (TB 31.8.1960). Das Mädchen widerspricht, als im Religionsunterricht die mittelalterlichen Kreuzzüge verherrlicht werden. Diese seien ein sinnloses Unternehmen gewesen, weil das Heilige Grab Christi infolge von Christi Auferstehung ja leer und belanglos geworden sei. «Der Katholizismus wird, obwohl ich mich in der katholischen Vorstellungswelt wie ein Fisch im Wasser tummele, die erste Autorität, die ich zu untergraben mich anschicke. Um diese Zeit verbietet man meines ‚anarchischen Einflusses‘ halber mehreren Kindern, mit mir zu verkehren.» schreibt sie in ihren Lebenserinnerungen. Eine Vorliebe für das Anarchische wird Thea Sternheim bis ins hohe Alter behalten. In ihren letzten Lebensjahren in Basel schätzt sie zwar ihre helle Wohnung, die alten verträumten Gassen, den beschaulichen Alltag. Aber gleichzeitig fehlt ihr Paris, sie hat Heimweh. «Die schnellfassende, nervöse und meistens anarchische Pariser Strasse beschenkte einen ganz anders als das eigenbrötlerische und puritanische Basel.» (TB 27.5.1964). «Das Anarchische» bedeutet für Thea Sternheim Vitalität, Offenheit, Mut, zu den eigenen Gedanken und Gefühlen zu stehen. Und Mut zu widersprechen.

Das Tagebuch dokumentiert die Suche der Autorin nach geistiger Orientierung und ihren Kampf um Selbständigkeit. Sie emanzipierte sich im Laufe der Jahre von den Zwängen gesellschaftlicher Konventionen. Sie löste sich nach zwanzig Jahren Zusammenleben mit Carl Sternheim aus einer Ehe, die unerträglich geworden war. In der Folge suchte sie nach einer Lebensform, die ihr angemessenen war. Der katholischen Kirche stand sie zunehmend kritisch gegenüber und fand schliesslich zu einer sehr eigenwilligen kirchenfernen Religiosität.  Als Tagebuchautorin reiht sich Thea Sternheim in eine jahrhundertelange europäische (bzw. westliche) Tradition ein. Die Stile und die Inhalte der Tagebücher sind ebenso unterschiedlich wie die Menschen, die sie regelmässig führen. Nicht wenige Schreibende eines Tagebuchs haben einen Hang zum Melancholischen, gerade wenn sie wache Beobachter*innen der Zeitläufte sind. Ebenso wichtig ist aber auch die Vitalität, die in Thea Sternheims Aufzeichnungen immer wieder aufscheint, die nicht nachlassende Neugier, mit der sie der Welt begegnet. Davon berichten auch nahe Freunde, mit denen sie jahrzehntelang Kontakte pflegt. Robert Levesque etwa, ein Franzose, den sie im Juli 1934 als jungen Mann in Paris kennen gelernt hat. In einem Neujahrsbrief im Dezember 1967 schreibt er an die mittlerweile 84-Jährige Frau [Foto 28]28. Thea Sternheim. Fotografie: Herman de Cunsel , sie sei allen ein gutes Beispiel, weil sie so heiter und ausgeglichen sei. «Was ich an Ihnen bewundere, ist Ihre Liebe zum Leben und Ihren Sinn für das Glück. […] Das kommt einerseits von Ihrer Willensstärke, ist aber auch ein Geschenk; ein Geschenk der Poesie oder eine Gnade des Himmels…». Mit diesen schönen Worten und dem dazu passenden Foto möchte ich meinen Vortrag beenden. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Fotografien: Deutsches Literaturarchiv Marbach und/oder Privatbesitz
Bildrechte: Heinrich Enrique Beck-Stiftung, Basel